Stalin versus Hitler (2024)

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Der britische Kriegshistoriker Richard Overy hat sich an einen Vergleich der beiden totalitären Großsysteme Hitlers und Stalins gewagt. Die Lektüre des über 1000 Seiten dicken Buches "Die Diktatoren - Hitlers Deutschland, Stalins Russland" setzt Langmut voraus.

Von Elke Suhr | 29.08.2005

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    Richard Overy weist nach, dass die beiden großen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts "nicht außerhalb der Geschichte stehen, sondern in sie eingeordnet werden müssen". Mit dieser Binsenweisheit verblüfft der Klappentext des über 1000 Seiten starken Werkes den Leser. Der Autor selbst wird nicht müde, sich von diabolisierenden Hitler- und Stalinbiographien zu distanzieren, die eigentlich nur noch im Fernsehen und in der Boulevardpresse eine Rolle spielen.

    "Keine der beiden Diktaturen wurde von außen oktroyiert. Keine war eine historische Abirrung, einer rationalen Erklärung nicht zugänglich, auch wenn sie häufig so behandelt werden, als seien sie ganz spezielle, eigene Historien, ohne jeden Zusammenhang mit dem, was vor ihnen war und nach ihnen kam."

    Das Titelbild von Richard Overys Werk wirbt indes ungeniert im Stil jenes ikonischen Personenkults, den der leninistische Propaganda-Apparat einst auf die modernen Massenmedien zugeschnitten hat. Die Nazis haben ihn kopiert und variiert, mit umgekehrten Vorzeichen wirkt er bis heute. Aus schwarzem Hintergrund schauen die - in mystisches Licht getauchten - Konterfeis der beiden "großen Diktatoren" auf ein fernes Ziel. Die Photomontage konterkariert den vollmundigen Klappentext, der den Versuch einer Quadratur des Kreises erahnen lässt.

    "Richard Overy stellt diese beiden großen diktatorischen Regime des vergangenen Jahrhunderts erstmals analytisch gegenüber. Er führt den Leser zu den persönlichen und historischen Wurzeln ihrer Macht, untersucht nicht nur die Lebenswege der Diktatoren, sondern auch ihre Regierungs- und Propagandaapparate, ihre Wirtschafts- und Militärpolitik sowie die Unterstützung durch die Bevölkerung Deutschlands und der Sowjetunion."

    Der analytische Generalangriff auf solch eine gewaltige Stoffmenge muss Heldenmut erfordert haben; die Lektüre des gewichtigen Werkes setzt Langmut voraus. Der historisch bewanderte Leser hat sich über weite Strecken durch Altbekanntes zu arbeiten, das nicht immer ganz dem neuen Forschungsstand entspricht. So ist das erste Kapitel, das von Stalins und Hitlers "Wegen in die Diktatur" handelt, mit einer überkommenen Version der berühmten Geschichte von Lenins Testament aufgemacht. Das mystische Bild vom zu früh gestorbenen Bolschewistenführer Lenin als gescheitertem Ritter der Revolution bleibt im Raum stehen.

    Stalins Gegenspieler erscheinen in der illustrativen Rekonstruktion des tausendmal geschilderten Diadochenkampfes ohne Profil, und der sozialökonomische Hintergrund verblasst. Zwischen gerafften Nacherzählungen öffnet sich reichlich Raum für alte Legenden und verkürzende Gleichsetzungen.

    "Russland verwandelte sich innerhalb von neun Monaten von einem Zarenreich in eine kommunistische Republik, Deutschland innerhalb weniger Tage von einem autoritären Kaiserreich in eine parlamentarische Republik. Diese Veränderungen lösten politische Gewalttaten und eine Wirtschaftskrise aus."

    Der Analogieschluss suggeriert, in Deutschland und Russland hätten vergleichbare Verhältnisse geherrscht, bevor das Zeitalter der "großen Diktatoren" anbrach. Die Periode der russischen Demokratie nach dem Zarensturz im frühen Jahr 1917 erscheint als unbedeutendes Übergangsphänomen.

    Richard Overy hinterfragt den Mythos von Lenins gewaltsamer Machtergreifung als "eigentlicher" Revolution nicht grundlegend, und er marginalisiert in der Konsequenz den Exodus der politischen Opposition, an dem Russland bis heute leidet. Demokratische Sozialismusentwürfe von Exilanten und Ermordeten der Leninära fechten den Autor nicht an. Er bekräftigt die überaus modische Meinung, Marxismus und Bolschewismus seien gleich zu setzen.

    "Nach Marx‘ Lehre lief die gesellschaftliche Entwicklung auf so etwas wie einen modernen Absolutismus hinaus, bei gleichzeitiger Verheißung einer vollständigen gesellschaftlichen Emanzipation - eine Paradoxie, die zu den Wesensmerkmalen der stalinistischen Diktatur gehörte."

    Deren Aufstieg wäre ohne Lenin nicht denkbar gewesen, der den Marxismus, von dem Karl Marx sich bekanntlich distanziert hatte, zu einer pseudowissenschaftlichen, geschlossenen Herrschaftsideologie verdichtete.
    Richard Overy beschreibt in seinem Systemvergleich auf anschauliche Art, wie Stalin und Hitler sich selbst - jeder auf seine Weise - als "großer Diktator" inszeniert haben. Er reflektiert indes nicht, dass Lenin die Vorlage für diese mediale Figur lieferte. Jahrelang hatte der vorgeblich altruistische Diener des Proletariats seiner Witwe zufolge eine massenwirksame Rhetorik und Körpersprache vor dem Spiegel einstudiert. Seine Reflexionen über Agitation und Filmsprache sind in die NS-Propaganda eingegangen. Lenin hatte die stilisierte Askese als erster zur Schau getragen und zum Markenzeichen des "modernen Diktators" gemacht. Hitler und Stalin kopierten sie mehr oder weniger konsequent.

    Bis Anfang der dreißiger Jahre erschien Lenin weiten Kreisen demokratiemüder deutscher Intellektueller von links bis rechts als historisch einmalige, charismatische Führerfigur von asketischer Gestalt, nach der aus beinahe allen politischen Lagern gerufen wurde. Er verkörperte eine reale Utopie jenseits der bürgerlichen "Geldsackrepublik" sowie den alten Traum vom neuen, messianischen "Übermenschen", der das Rad der Geschichte im richtigen historischen Moment in die Hand zu nehmen verstand. Lenin hatte kraft seiner eisernen Energie und seiner mechanistischen Deutung der marxistischen Utopie jene autoritären Strukturen grundiert, über die der ungewollte Erbe Stalin sein permanent perfektioniertes Terrornetz spannte.

    Dessen negative Popularität als "größter Diktator" neben Hitler liegt wohl auch an der medienwirksamen Magie des unermesslichen Massenmordens, das sich besser vermarkten lässt als die Analyse der vergleichsweise unspektakulären Lenindiktatur. Deren Gewalttätigkeit wird außerhalb von Expertenkreisen leicht unterschätzt. Die Fixierung auf Hitler und Stalin als Symbolfiguren der "dunkelsten Kapitel des zwanzigsten Jahrhunderts" verstellt den Blick auf strukturelle Ursachen für den Anklang beider Diktaturen bei den Menschen.

    In seiner Einleitung betont Richard Overy zwar, dass Hitler und Stalin sich nur mit dem Einverständnis eines Großteils der Bevölkerung an der Macht halten konnten, in seiner Schlussbetrachtung kommt er jedoch zu einem anderen Urteil.

    "Die große Mehrzahl der sowjetischen und deutschen Bürger war zwar nicht aus der neuen Gesellschaft ausgeschlossen, blieb aber auf relativer Distanz zum politischen Prozess."

    Der Autor geht der Frage nach der Resonanz der Diktaturen bei den Massen nicht ernsthaft nach. Und so entgeht ihm ein grundlegender Unterschied zwischen der Machtergreifung Lenins und der Machtübergabe an Hitler, der die Strukturen beider Diktaturen langfristig bestimmen sollte.

    Hitler leitete mit seinem Legalitätskurs eine "organische" Integration etablierter Eliten ein und setzte den Antikommunismus als Leitideologie gegen die Parteilinke durch. Auf anderem Wege wäre er angesichts des Aufstieges der KPD und des wachsenden Einflusses populärer Wortführer des Nationalbolschewismus - den Richard Overy zu Unrecht als unbedeutendes Phänomen der zwanziger Jahre abtut - nicht an die Macht gelangt. Hitler "erkaufte" sich mit den Worten Götz Alys das Einverständnis der Mehrheit auf Kosten von Minderheiten. Die Ausgrenzung und Ermordung der Juden schuf Aufstiegsmöglichkeiten für nachdrängende Generationen und rekrutierte radikale Eliten für den expandierenden Terrorapparat, ohne dass der alte Grundstock angetastet werden musste.

    Lenins erster Schritt zur realen Machtergreifung war die restlose Enteignung des gerade erst aufkommenden russischen Industriekapitals; es folgte die totale Zerschlagung der tradierten Staatsbürokratie mitsamt der "alten" politischen Eliten. Erst angesichts des ökonomischen Zusammenbruchs seiner potemkinschen Diktatur des Proletariats und der großen Hungersnot Anfang der zwanziger Jahre, legte er seine berühmte "Atempause" des Terrors ein. Stalin kündigte die friedliche Koexistenz der Klassen eingangs der ersten Fünfjahresplanära wieder auf und vollendete die "Vernichtung der Intelligenz alter Schule". Damit leitete er jenen periodischen Austausch von Eliten durch Massensäuberungen ein, der zum Transmissionsriemen seiner Macht werden sollte.

    Solche Zusammenhänge gehen in Richard Overys Buch weitgehend unter. Angesichts vieler offener Fragen und mancher verkürzter Analogien bleibt ein Unbehagen zurück. Ist eine systemvergleichende Generalanalyse solchen Ausmaßes von einem einzelnen Menschen leistbar, ist sie überhaupt sinnvoll? Seine Kompetenz beweist Richard Overy in den Kapiteln über Krieg und Rassismus, in denen er erklärtermaßen narrativ vorgeht und dabei sein reiches Spezialwissen zu diesen Themenbereichen ausbreitet.

    Richard Overy: Die Diktatoren. Hitlers Deutschland - Stalins Russlands
    München:DVA

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    Author: Edmund Hettinger DC

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